Mehr Meister statt Master
Was bewegt junge Menschen, sich trotz des Trends zur Hochschule für eine Berufsausbildung zu entscheiden? Der Kreis-Anzeiger hat mit dreien über ihre Erfahrungen gesprochen.
Von Steffen Frühbis
Blicken auf eine gute Zeit in der Berufsschule Nidda zurück: Rico Müller, Julian Gaar und René Becker (v.l.). Foto: Frühbis
NIDDA – „Mehr Meister statt Master“ titeln die Medien seit Jahren. Unternehmen kritisieren schon lange eine zunehmende Akademisierung von Berufen, Warnungen vor Fachkräftemangel werden immer lauter. Die klassische Berufsausbildung wieder stärker in den Fokus zu rücken, lautet die Forderung. Dennoch scheint eine akademische Karriere der ungebrochene Wunsch junger Menschen.
Noch bis in die 1980er Jahre hinein suchte bundesweit gerade mal ein Fünftel aller Schulabgänger den Weg zu einer Hochschule. Etwa 30 Jahre später war die Situation eine andere: Die Studienanfängerquote lag in den Jahren 2013 bis 2015 bei nahezu 60 Prozent. Von einem „Akademisierungswahn“ sprach gar die Wirtschaftswoche seinerzeit. Zwar sank der Anteil bis 2020 wieder leicht, doch noch immer strebt mindestens jeder zweite junge Mensch einen Hochschulabschluss an. Höhere Gehaltsklassen einerseits sowie Einfluss und gesellschaftliches Ansehen andererseits mögen vordergründig locken.
Was bewegt also junge Menschen heute, sich trotz des Trends zur Hochschule für eine Berufsausbildung zu entscheiden? Der Kreis-Anzeiger trifft Simone Langlitz, Abteilungsleiterin im Fachbereich Wirtschaft und Technik an der Berufsschule Oberhessen (BSO), sowie René Becker, Julian Gaar und Rico Müller, die in lockerer Runde die Gründe für ihre Berufswahl erläutern.
Die Gedanken von René Becker wirken strukturiert und zielorientiert. Gut gekleidet könnte der 20-Jährige auf den ersten Blick als angehender Bankkaufmann oder Jungunternehmer durchgehen. Vermutlich hätte sich René während seiner Zeit an der Limesschule in Altenstadt jedoch eher als „schwierigen Fall“ bezeichnet. Eine ordentliche Portion allgemeiner Schulunlust sorgte für den Abbruch des G8-Gymnasialzweiges. „Den Druck empfand ich als sehr hoch damals, ich bin kaum hinterhergekommen“, gibt René heute zu. Mit wenig Lust aufs Lernen geht die Mittlere Reife zwar gerade noch gut. Nach der 10. Klasse ist dann allerdings endgültig Feierabend. „Rückblickend könnte man sagen, ich war schlichtweg faul“, bekennt er. Raus aus der Schule und erst mal Geld verdienen, scheint zum damaligen Zeitpunkt der einzig gangbare Weg. Eine Berufsausbildung als Fachkraft für Lagerlogistik kommt da gerade recht. Angesichts aus dem Boden schießender Logistik-Zentren vermutlich keine schlechte Entscheidung. Gemäß der Idee des dualen Ausbildungssystems pendelt René zwischen Lehrbetrieb und Berufsschule für mehrere Jahre hin und her. Im konkreten Fall heißt das: zwischen der Ille Papier-Service GmbH in Altenstadt und der Wirtschaftsschule am Oswaldsgarten in Gießen. Einerseits keine einfache Aufgabe für einen Minderjährigen, täglich mit öffentlichen Verkehrsmitteln von Altenstadt zum Gießener Oswaldsgarten zu gelangen. Andererseits vielleicht aber auch ein wichtiger Schritt zum Erlernen von Schlüsselqualifikationen wie Selbstorganisation und Zielorientierung. Während der Lehre jedenfalls fällt bei René der Groschen: „Die Arbeit machte mir Spaß und der Logistik-Bereich interessierte mich sehr.“ Der ehemals wenig motivierte junge Mann schafft es, die Ausbildung sogar von drei auf zweieinhalb Jahre zu verkürzen. Die Übernahme durch den Betrieb nach der Lehre ist zudem gesichert.
Handwerk statt Theorie
Die Bedeutung einer ausreichenden Zahl von Nachwuchsfachkräften sieht vergangenen Sommer auch Bundespräsident Steinmeier. „Bewerben Sie sich um Lehrstellen“, ruft Frank-Walter Steinmeier im Juni 2020 jungen Menschen zu. Im Rahmen eines Spitzengesprächs mit Wirtschafts- und Gewerkschaftsvertretern befindet das Staatsoberhaupt: „Gerade berufliche Bildung muss uns ganz besonders am Herzen liegen. Unsere Wirtschaft braucht Sie, unser Land braucht Sie!“
Die Wirklichkeit nimmt oftmals eine andere Wendung, wie die Verhandlungen zum Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst vergangenen Herbst zeigen. Damals einigen sich Verdi und Arbeitgeber auf Lohnerhöhungen von bis zu zehn Prozent für Intensiv- und Pflegekräfte. Vor dem Hintergrund der Corona-Pandemie wirkt dies zwar nach einer Aufwertung von Pflege-, also klassischen Ausbildungsberufen. Von den laut Bundesagentur für Arbeit etwa 1,7 Millionen Beschäftigten in der Pflege profitieren allerdings gerade mal 200 000 tariflich angestellte Fachkräfte vom höheren Gehalt, gab Verdi an. Kein guter Schnitt, angesichts der geforderten gesellschaftlichen Wertschätzung.
Dass finanzielle Aspekte nicht immer den Ausschlag geben, weshalb sich junge Leute für oder gegen eine Berufsausbildung entscheiden, zeigt das Beispiel von Julian Gaar. Er ist sportlich ausgesprochen aktiv und geht im Kickboxen sogar für die Nationalmannschaft an den Start. Im ordentlichen Zweier-Bereich absolviert Julian vergangenes Jahr das Abi an der Theodor-Litt-Schule in Gießen. Für Eltern und Großeltern ist klar: An das Gymnasium soll ein Studium des Bauingenieurwesens an der Technischen Hochschule Mittelhessen (THM) anschließen. Corona-bedingt muss sich der heute 20-Jährige die Prüfungsinhalte während der Abiturphase komplett selbst erarbeiten. Ein Umstand, der in seinen Augen nicht gerade zum weiterführenden Lernen motiviert. Gelegen kommt da dem Butzbacher – als Voraussetzung fürs Studium des Bauingenieurwesens – das dreimonatige Pflichtpraktikum. Ein Praktikantenplatz findet sich beim Bauunternehmen G. Hildebrand in Butzbach.
„Mir hat das handwerkliche Arbeiten als Maurer nach den ersten sechs Wochen so gut gefallen, dass ich mich schließlich gegen das Studium entschieden habe“, gibt Julian geradeheraus zu. „Die Entscheidung fiel mir eigentlich leicht, denn auch in Zukunft wird mit Sicherheit immer gebaut werden. Die Theorie des Studiums schreckte mich plötzlich eher ab. Lediglich meine Eltern waren eine gewisse Hürde.“
Julians Vater ist als Kfz-Mechatroniker tätig und versucht seinem Sohn durch eine akademische Laufbahn eine finanziell bessere Zukunft in Aussicht zu stellen. Mehrere Cousins absolvieren zudem jeweils erfolgreich ein Studium. „Irgendwie habe ich meinem Vater über mehrere Wochen hinweg versucht, mit Fingerspitzengefühl meinen Wunsch nach einer Maurerlehre statt einem Studium schmackhaft zu machen.“ Letztendlich zeigt sich Julians Familie einsichtig. Heute kann er über diese Anstrengungen schmunzeln und seine eigenen Zukunftspläne machen: „Um mich langfristig selbstständig zu machen, würde ich gerne noch einen Meister-Abschluss draufsetzen. Das wäre ein echter Kindheitstraum.“
Die Zahlen der Bundesagentur für Arbeit scheinen für die Entscheidung von René und Julian zu sprechen. Für Hessen listet die Arbeitsagentur Ende Februar 25 100 offene Ausbildungsstellen. Demgegenüber stehen lediglich 22.700 Bewerber. Die Zeit steht offensichtlich günstig für eine Berufsausbildung.
Einen etwas anderen Weg schlägt Rico Müller ein. Nach dem Abitur am Wolfgang-Ernst-Gymnasium in Büdingen absolviert er eine Ausbildung zum Staatlich geprüften Fremdsprachensekretär an der BSO. In Zeiten globalisierter Geschäftsprozesse sicherlich ein Berufsfeld mit Zukunft. Perspektiven bieten sich beispielsweise in der Tourismus-Branche, bei international tätigen Anwaltskanzleien oder im Messe- und Veranstaltungsbereich. Das breite Spektrum der Auslandsaufenthalte und das große Angebot an Sprachprogrammen locken Rico an das Fremdsprachensekretariat der BSO. Der junge Mann aus Bindsachsen ist sich absolut sicher: „Die Zeit an der Berufsschule, insbesondere die Auslandseinsätze, waren die beste Zeit in meinem bisherigen Leben.“ Mit Begeisterung macht Rico mehrere Sprachzertifikate und schließt die Ausbildung schließlich mit Bestnoten ab.
Nicht zuletzt wichtiger Teil seiner Berufsausbildung: ein sechsmonatiger Auslandsschuldienst in Frankreich. Die Kombination aus Arbeit mit Schülern einerseits und Fremdsprachen andererseits lassen den heute 22-Jährigen schließlich einen Entschluss fassen: Auf die erfolgreiche Ausbildung folgt ein Lehramtsstudiengang. Heute studiert Rico im ersten Semester an der Justus-Liebig-Universität in Gießen Haupt- und Realschullehramt. Hat die dem Studium vorgelagerte Ausbildung etwas gebracht? „Eindeutig“, stimmt Rico zu. „Die Auslandsaufenthalte werden beispielsweise im Studium anerkannt, und ich muss nicht erneut an Auslandsprogrammen wie Erasmus teilnehmen. Ferner konnte ich den Französisch-Einstufungstest, der normalerweise Pflicht für diesen Studiengang ist, umgehen.“
Doch noch ein Studium
Auch René Becker überkommt der Wunsch nach einem Hochschulstudium, wenn auch mit leichter Verspätung. Als inzwischen ausgebildete Fachkraft für Lagerlogistik ist René ein Jahr lang in diesem Beruf tätig. „Nach einer Weile musste ich erkennen, dass die Möglichkeiten doch in gewisser Weise beschränkt sind“, gibt er zu bedenken. „Die Arbeit an sich ist nicht schlecht, aber ich merke, wie ich Lust bekomme, zum Beispiel auch Personalaufgaben und weitergehende Verantwortung zu übernehmen.“
Nach dem Fachabitur an der Fachoberschule möchte der Altenstädter gerne Logistik-Management studieren. „Supply Chain Management“ heißt das heute. Der junge Mann wird nicht blauäugig drauflos studieren. Bei einer Studienabbruchquote von 27 Prozent im Jahre 2018 – zumindest bei Bachelorstudiengängen – wäre dies auch nicht ratsam. Sein Plan B: Sollte das Studium aus welchem Grunde auch immer nicht gelingen, gäbe es immerhin den Weg zurück in seinen bisherigen Beruf in der Lagerlogistik. Auch in diesem Falle hat sich die Berufsausbildung somit gelohnt.
Kreis-Anzeiger, 23.03.2021